Der Text entstand im Herbst 2023 super spontan irgendwann nachts ohne groß darüber nachzudenken und ohne konkrete intention. Später entschied ich mich den Text beim Boykott Magazin einzureichen. Er wurde in der Nr. 3 veröffentlicht. Es ist ein super persönlicher Text und behandelt meine Gedanken, Gefühle und Verarbeitung zu erlebter sexualisierter Gewalt in Form eines fiktiven Briefes an die Gewalt ausübende Person. Es werden keine konkreten Details ausgeführt.
Denkst du eigentlich auch so oft an mich, wie ich an dich?
Denkst du eigentlich auch so oft an mich, wie ich an dich? Ich weiß, unsere Begegnung war nur sehr kurz, aber denkst du auch so oft an mich? Als ich grad mal wieder an dich dachte tauchte die Frage plötzlich auf. Daher schreib ich dir. Unser Treffen ist 28 Jahre her und trotzdem denk ich regelmäßig an dich. Inzwischen nur noch selten, aber trotzdem regelmäßig. Früher hab ich fast täglich an dich gedacht und das, obwohl unser Treffen nur so kurz war. So kurz, dass ich mir dein Gesicht gar nicht merken konnte. Um so seltsamer, dich immer wieder zu sehen, immer so ohne Gesicht. Manchmal stell ich mir vor, dass du in dem Moment dann auch an mich denken musst, weil ich gerade an dich denke. Und das du dich dann fragst, warum du gerade in dem Moment an mich denken musst. Denkst du überhaupt manchmal an mich? Warst du dir in dem Moment überhaupt bewusst, dass du so einen Eindruck bei mir hinterlassen würdest? Ich meine 28 Jahre sind eine lange Zeit und du bist einer der Menschen, die ich wahrscheinlich nie vergessen werde. Warst du dir dessen bewusst? Oder war das vielleicht sogar deine Absicht? Was genau war eigentlich deine Absicht? Was wolltest du in dem Moment? Dass du mir in dem Moment 20 Jahre meines Lebens rauben würdest, hast du vermutlich nicht gewusst. Zumindest red ich mir das immer ein, dass du das nicht wusstest, dass du sie nur zufällig genommen hast. Und würde ich dich treffen und dir davon erzählen, würdest du dich höflich entschuldigen und mir meine 20 Jahre wieder geben. Das würdest du doch sicherlich tun, oder? Würdest du mich überhaupt wiedererkennen? Zurück geben würdest du sie aber auf jeden Fall. Schließlich gehören dir die 20 Jahre nicht. Sie waren meine.
20 Jahre mit denen ich viel schönes und nützliches hätte tun können. Vielleicht auf einer Wiese einen Roman lesen oder in der Sonne liegen und den Wolken zu sehen. Ich hätte auch auf jeden Fall mehr Zeit mit meinen Kindern verbracht. Du hast nämlich nicht nur meine 20 Jahre genommen, sondern auch meinen Kindern einen Teil ihrer Kindheit. Wusstest du das? Dass du meine 20 Jahre genommen hast find ich meist nicht so schlimm. Aber gerade für meine Kinder tut es mir sehr leid. Sie haben dich gar nicht kennen gelernt und trotzdem hast du auch ihre Zeit genommen. Schwer zu sagen wieviel. Ich werd sie fragen, wenn sie das einschätzen können. Ihre Jahre würdest du doch auch zurück geben, oder? Schließlich bist du doch so höflich. Vielleicht hätte ich mit der Zeit auch mein Studium beendet und vermutlich auch mehr Zeit für meine Beziehungen gehabt. Wahrscheinlich hätte ich mich auch getraut mehr raus zu gehen. Irgendwo hin reisen wäre schön gewesen. Oder vielleicht auch einfach nur irgendwo entspannt mit Freund*innen in einem Freisitz bei Eiskaffee plaudern. Ich hätte ein Hobby gehabt, da bin ich mir sicher. Also ein richtiges, irgendwas worauf ich mich wirklich einlasse und dann auch wirklich gut bin und nicht ständig irgendwas neues, was ich dann doch schnell wieder bleiben lasse. Klavier spielen vielleicht. Vielleicht hätte ich dann auch noch meinen Garten. Das hätte ich schön gefunden. Vielleicht wäre ich auch öfter Fahrrad gefahren und schwimmen gegangen. Das mochte ich früher sehr. Auf jeden Fall hätte ich mich mehr getraut. Manchmal male ich mir einfach nur aus, was ich alles machen würde, wenn ich die 20 Jahre zurück bekomme. Ein sehr schönes Gefühl, sich vorzustellen plötzlich 20 Jahre geschenkt zu bekommen und einfach frei entscheiden zu können, was man damit tut.
Frei über Zeit entscheiden zu können, statt jede Woche zur Therapie und zur Selbsthilfegruppe zu gehen. 300 Stunden Therapie waren es am Ende und nochmal genau so viele Stunden Selbsthilfe. Jedes mal mindestens eine halbe Stunde Hinfahrt und eine halbe Stunde zurück, meist auch mehr. Das sind 1200 Stunden, fast ein dreiviertel Arbeitsjahr. Ein halbes Jahr war ich auch in der Klinik. Das sind allein ein und ein Viertel Jahr am Stück nichts anderes als Therapie, damit ich nicht jeden Tag an dich denke. Die Zeit, die ich mit Angst und Panikattacken in meinem Zimmer saß lässt sich leider nicht bemessen. Auch nicht die Zeit, die ich mit Freund*innen und Familie da saß und über unsere Begegnung gesprochen hab, statt mit ihnen bei einem Eiskaffee in einem Freisitz einfach nur zu plaudern. Auch deren Zeit hast du gestohlen. Hast du das gewusst?
Wusstest du, dass der Aufenthalt in einer Klinik etwa 300 € am Tag kostet? Das sind etwa 54.000 € für das halbe Jahr. Und dazu nochmal etwa 30.000 € für die ambulanten Therapien. Lange konnte ich auch nicht arbeiten, teilweise nicht das Haus verlassen. Ich hatte etwa 1000 € Arbeitslosengeld im Monat. 12.000 € im Jahr. Ich weiß nicht mehr wie lange. 10 Jahre? 15? Sagen wir 10, ich mag grad nicht nachrechnen. Also 120.000 €. Das sind insgesamt über 200.000 €, die unsere Begegnung gekostet hat. Und das, obwohl sie so kurz war. Denkst du da manchmal dran? War dir das in dem Moment bewusst?
Was hast du eigentlich mit meinen 20 Jahren angefangen? Das frag ich mich wirklich. Ich hoffe wenigstens etwas Schönes! Vielleicht hast du damit eine Weltreise gemacht oder Klavier spielen gelernt? Hast du mit Freund*innen bei einem Eiskaffee geplaudert? Hast du den Wolken zugesehen? Hast du vielleicht in lauen Sommernächten draußen gesessen und darauf gewartet, dass die Sonne wieder aufgeht? Hast du auf der Wiese ein schönes Buch gelesen und nicht wie ich deine Zeit mit therapeutischen Fachzeitschriften und Wikipedia rum gebracht? Hast du ganz frei und laut gelacht? So ganz ohne Angst? Ich hoffe sehr du hast das alles mit meiner Zeit getan, sonst wäre es sehr schade darum, wenn wir beide nichts davon hatten.
Und dann frage ich mich manchmal, wie viele andere Menschen du noch so getroffen hast wie mich? Wie viel Zeit du noch von anderen Menschen gestohlen hast? Wieviele Jahrzehnte hast du schon geraubt? Oder vielleicht sogar Jahrhunderte? Was machst du mit all der Zeit? Und dann stell ich mir manchmal vor, dass es eine andere Person gibt, die du getroffen hast und die vielleicht anders reagiert hat als ich. Dass es eine Person gibt, die dich schon längst vergessen hat, aber die du nicht vergessen kannst. Dass es eine Person gibt, an die du regelmäßig denken musst. Eine Person, die dir auf die Fresse gegeben hat, als ihr euch getroffen habt. Und zwar so sehr, dass all die Zeit die du den Menschen gestohlen hast, plötzlich aus deinen Taschen auf den Boden purzelte und du auf einmal die Person bist, die zu Hause sitzt voll Angst und sich nicht raus traut. Ich stell mir vor, wie du Nachts bei jedem Geräusch im Haus hoch schreckst, nicht schlafen kannst und wach liegst, aus Angst es könnte die Person sein, an die du jeden Tag denkst. Und das obwohl du doch so endlos müde bist. Wie du die Wolken und die Leute auf den Freisitzen mit ihren Eiskaffees nur noch durch die verhangenen Fenster siehst. Ich stell mir vor wie du vor Zittern beim Kaffee eingießen die Hälfte verschüttest.
All das stell ich mir manchmal vor. Aber vermutlich hat dir nie wer auf die Fresse gegeben und vermutlich warst du mit meinen verlorenen 20 Jahren auch nicht auf einer Weltreise. Wahrscheinlich sitzt du auch einfach nur so zu Hause und hast Angst, genauso wie ich. Und das obwohl du nie an mich denkst. Denn dafür war die Begegnung einfach zu kurz. Für dich zumindest. Ich kann mich noch so gut erinnern, da sie für mich endlos war und sich in mein Gehirn eingebrannt hat. Ich kann mich besser daran erinnern, als an meinen ersten Kuss oder meinen 30. Geburtstag, den ich in der Klinik verbrachte. Aber weißt du woran ich mich besser erinnern kann als an dich? Zum Beispiel an die Geburt meiner Kinder und wie sie groß geworden sind. Auch das hat sich eingebrannt. Ich kann mich an den Moment erinnern, als ich das erste mal keine Angst mehr hatte, an das Gefühl, als ich das erste mal in den Himmel sah und einfach nur die Wolken beobachtete. Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als ich das erste mal im Regen getanzt habe und entdeckte, dass ich einen Lieblingsregen habe. Ich kann mich an das Gefühl erinnern, als ich beschloss, dass ich auf die ganze Scheiße keinen Bock mehr habe und endlich frei sein will. An all das erinnere ich mich jeden Tag und jeden Tag vergesse ich dich ein Stück mehr.
FranZine 10.23
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